serie unmarked space
text von eva tinsobin
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Die Ungewissheit diesseits und jenseits von Grenzen
Michaela Kirchknopf zeichnet – nach eigenen Worten - Entscheidungen. Jeder ihrer aufs Papier gebrachten Striche markiert eine Grenze. Mit jeder Grenzziehung konstruiert sie Räume, schöpft ihre eigenen Welten, in die die Betrachterinnen und Betrachter eintreten, um einen Augenblick später wieder aus ihnen herauszufallen. Was ist drinnen? Was ist draußen? Was oben, was unten? Und wo stehe ich im Augenblick? Diese Fragen stellen sich zu jedem Zeitpunkt der Betrachtung aufs Neue.
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"Draw a distinction" lautet ein Leitsatz des britischen Mathematikers, Psychologen, Dichters und Songwriters George Spencer-Brown. In seinem Werk "Laws of Form" aus dem Jahr 1969 erhob er das Unterscheiden und Bezeichnen selbst zum Ausgangspunkt für formale Operationen. – Ein simultaner Akt, der ein Dilemma des Beobachters enthält, denn jede Beobachtung ist eine Unterscheidung, die wiederum eine zweite Unterscheidung impliziert. Die erste Beobachtung ist die des beobachteten Gegenstands. Die zweite ist die implizit zugrundeliegende Unterscheidung in das, was wir beobachten und das, was wir nicht beobachten. Was wir nicht beobachten, bezeichnet Spencer-Brown als "unmarked space". Dieser ist in den Werken Michaela Kirchknopfs stets präsent und garantiert Irritation. "Überhaupt nichts kann durch Erzählen gewusst werden", sagte George Spencer-Brown, und das mag auch für die bildhafte Erzählung gelten.
Von Leichtigkeit erfüllt und stets in Bewegung scheinen Kirchknopfs Bilder oft auf den ersten Blick. So führt eine transparente Treppe hinauf zur leuchtend roten Frucht. Umhüllt ist die Anordnung von einem angedeuteten Höhleneingang. Zeugt die Szenerie von Geborgenheit oder – im Gegenteil - von einem Ausgesetzt-Sein? Die Inklusion bietet sich ebenso an wie der freie Fall ins Bodenlose. Ein anderer Untergrund in einem anderen Bild besteht aus einmal nach innen, einmal nach außen weisenden geometrischen Formationen, die am oberen Rand in eine Gruppe Bäume münden. Erreicht der Betrachter den behütenden Wald eröffnet sich zugleich der leere Raum: ein Absturz in das weiße Blatt Papier droht; in ein nicht definiertes Universum jenseits der Schwerkraft. "Gefahren, die jenseits des Verstehens lauern" sind es, die Michaela Kirchknopf zu Papier bringt. Und Gefahr impliziert Angst.
Angst ist für den deutschen (seiner politischen Gesinnung wegen heute mehr denn je umstrittenen) Philosophen Martin Heidegger eine menschliche Grundbefindlichkeit mit besonderer Bedeutung: Die Angst ist es, die dem Dasein erst sein "In-der-Welt-Sein" erschließt. Sie lässt die Ganzheit des Bezugs eines "Um-zu" und "Um-willen" in sich zusammenfallen. Die Dinge werden bedeutungslos, wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Angst lässt uns von möglichen Handlungen zurücktreten, versetzt uns in einen Augenblick des reflexiven Selbstbezugs. Aus diesem heraus kann eine Entscheidung zutage treten: die eigene Existenz in die Hand zu nehmen und ein "authentisches" Leben zu führen, ohne sich dabei an die unüberschaubaren Angebote der Welt zu verlieren. - Ein aktiver Prozess, den Michaela Kirchknopf den Betrachterinnen und Betrachtern ihrer Werke überlässt, zuweilen aber auch mit Ironie selbst in die Hand nimmt;
etwa indem sie in eine komplex gestrichelte Flächen-Landschaft unvermutet eine "Lücke im System" einschreibt.
Eva Tinsobin, Autorin, freie Journalistin, 04/2015
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installation komm(h)erz
text von beate susanne wehr
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Michaela Kirchknopfs Atelier in Wiens 7. Bezirk, befindet sich im historischen Stadtteil Spittelberg. Im November und Dezember 2008 begleitete die Künstlerin die für ihr Atelier entwickelte temporäre Rauminstallation „Komm(h)erz“. Die temporäre Installation machte sie durch ihre ständige Präsenz für eine breite Öffentlichkeit begeh- und erfahrbar. Um den Raum wieder als Atelier nutzbar zu machen, wurde nach diesem Zeitraum die Installation entfernt, die Wände abgeschlagen und wieder neu verputzt.
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Der Titel dieser vielschichtigen Installation kann in folgendem Zusammenhang gesehen werden: Der Zeitraum, den Michaela Kirchknopf bewusst für die Präsentationszeit gewählt hat, die Vorweihnachtszeit, verwandelt die Gassen rund um ihren Arbeitsraum am Spittelberg in ein buntes Weihnachtstreiben. Für die Mehrzahl der Marktbuden und Geschäfte steht der Kommerz im Mittelpunkt. Sicher eine Beobachtung von Michaela Kirchknopf, die als Ausgangspunkt für dieses Konzept gesehen werden muss. „Komm(h)erz“ verweist jedoch nicht nur auf die Fragen des Kommerzes, des Kaufens und des Konsumierens in dieser spezifischen Zeit, sie weist vielmehr über diese Zeit hinaus. Wertfragen in unserer Gesellschaft werden aufgeworfen.
Die Besucher des besagten Weihnachtsmarktes, die vor dem ebenerdigen und durch Fenster einsehbaren Atelier vorbei flanierten, waren eingeladen den Raum zu betreten. Dieser unterschied sich von den angrenzenden Geschäften und Läden durch seine „ungewöhnlichen Waren“. Michaela Kirchknopf wählte als „Schaufensterdekoration“ Miniatur-Einkaufswägen, die kleine Wolken aus Watte beinhalteten. Ihr Titel: Can I buy a piece of sky?
Durch die Tür gelangte man in den hellblau gestrichenen Raum, der an den Wandseiten mit wenigen Wolken und vereinzelt gesetzten kleinen Papierkollagen bemalt und beklebt war. Unbeschriftete Preisschilder unter den mit der Wand verbundenen Collagen suggerierten, dass diese Artikel käuflich erworben werden können. Ein Schnittmusterblatt mit einer Vielzahl von gleichen, kleinen Einkaufswägen, lud zum „Kauf im Quadrat“ ein. Die gewünschte Größe wurde abgeschnitten. Auch ein paar wenige kleinformatige Leinwände auf denen mit Acryl gemalte Einkaufswägen zu sehen waren, sowie die auf dem Boden in reduzierten Formation aufgestellten Einkaufswägen mit Watte aus der Serie Can I by a piece of sky? gab es zu erwerben. Ein sehr reduziertes käufliches Angebot wurde angeboten.
Can I buy a piece of sky, (Kann ich den Himmel kaufen), diese Frage wirft weiter Fragen auf. Wem gehören die Wolken, die Erde, das Wasser? – Ist alles käuflich? Spätestes bei diesem Assoziieren muss man erkennen, dass das primär einladende Raumkonzept von Michaela Kirchknopf in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu sehen ist. Betrachten wir dann auch noch die von ihr für diese Zeit und darüber hinaus initiierte Tauschbörse, die ein Teil dieser Installation war, in der sie nicht den Geldwert sondern die Talente und Fähigkeiten des einzelnen Individuums als Wert in den Fokus rückte, wird schnell klar, dass diese Installation in ihrer Vielschichtigkeit den Bogen vom individuellen zum universellen Wertempfinden spannt.
Michaela Kirchknopfs Installation verdeutlicht, dass alle Menschen unter einem gemeinsamen Himmel leben, der schlussendlich nicht mit Geld zu bezahlen ist.
Beate Susanne Wehr, 2009,
www.beate-susanne-wehr.de
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installation mon(n)as geheimnis
text von lucas gehrmann
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Kunst ist prinzipiell käuflich und soll in der Regel möglichst lange halten und sich im Wert steigern. Besonders berühmte Werke der Kunst, die wir allerdings selten noch erwerben können, werden deshalb hinter Panzerglas versteckt und durch Alarmanlagen vor zu großer Nähe ihrer Bewunderer bewahrt. Die Mona Lisa ist solch eine Ikone, zu der zahllose Menschen in den Louvre strömen, um dort dann weniger zu sehen als auf einer besseren Reproduktion dieses Bildes. Michaela Kirchknopf liefert uns eine etwas freie Kopie dieses – vielfach interpretierten und umso rätselhafter erscheinenden – Leonardo-Werkes, die etwa so aussieht wie das Original samt Panzerglas, dessen verschleiernde Wirkung hier gleich mitgemalt wurde.
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Die Schädeldecke dieser Mona wurde allerdings geöffnet, was möglicherweise der Enthüllung der die illustre Renaissancedame und ihren Portraitisten umgebenden Rätsel dienlich sein soll. Anstelle von Erhellungen steigen aber rote Punkte aus ihrem Schädel auf, Punkte, wie sie in Galerien gerne neben Kunst an die Wand geklebt werden, um zu signalisieren, dass diese bereits ihre Käufer gefunden hat. Mona dürfte demnach schon mehrmals verkauft worden sein, jedenfalls lassen sich gute Geschäfte machen mit ihr – trotz Verschleierung. Ihr derzeitiger Versicherungswert liegt bei 650 Mio US $, dennoch dürfen wir annehmen, dass der Louvre sie so bald nicht zur Versteigerung freigibt – unterm Strich und á la longue wäre der Erlös nur ein Verlust. Vielleicht mutieren deshalb Michaela Kirchknopfs Verkaufs-Punkte letztlich zu roten Luftballons?
Lucas Gehrmann, Kurator Kunsthalle Wien, 2007,
www.rotat.at
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serie gegendrehungen
text von dr. leo hemetsberger
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Was macht das Geheimnis der Arbeiten Michaela Kirchknopfs aus - sie erzählt Geschichten, die um gewisse Konstellationen kreisen, im Besonderen um die der Frauen. Pandora, Medea und Medusa sind die archetypisch femininen Bezugsgrößen, denen sie sich annähert. Deren tragisch heldenhaft katastrophale Erzählungen legt sie auf die heutige Zeit um, von ihnen lässt sie sich beeinflussen. Was kann die heutige Frau von diesen Geschichten mitnehmen? Wenn sie sich der Verwerfung zwischen individueller Empfindung und scheinbar objektivem Anspruch der aufgeklärten Weiblichkeit bewusst ist und im Spüren der Gespaltenheit als Subjekt in der ohnmächtig sozialisierenden Verantwortung und jener spürbaren Realität als wandelnde Verkörperung des unerreichbaren objekts a des Begehrens gewachsen sein soll, dann kommen die ursprünglichen Spannungen zwischen versuchtem Lebensentwurf und konventioneller Tradierung zum Vorschein.
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Kirchknopf nähert sich den modernen Konstellationen über das Symbolische, z. B. die Lotusblüte an, die für Weiblichkeit und Reinheit steht, im Zugleich von Signifikat und Signifikant, dem Dafürstehen und Verdecksein dessen, was immer dahinter bleibt.
Ihre Arbeiten sind nicht plakativ, sie vermittelt Polaritäten gerne durch einen feinen Witz, und extemporiert die Gegensätze in subtilen Gegenüberstellungen, die dadurch wirken, dass vieles offen gelassen wird. Wie erst die Pause in der Erzählung den Raum mit Gedanken erfüllt, jener Moment der Stille im Nachschwingen der Geschichte die Verbindung von Zuhörer und Geschehen schafft, wenn das Unbekannte durch den Rückhall in die eigene Ansicht verwoben wird, im Widerklingen jenes vergangenen Zeitpunkts, wenn aus dem Fluss der Worte Erinnerung wird. Die Arbeiten Kirchknopfs sind im Übergang vom Sein der Geschichte, über den Schein der Vergessenheit ins Nichts der Reflexion angesiedelt.
Die großen mythischen Frauengestalten prägen ihre verschwindende Spur in zeitgenössische Kontexte. Die Zuordnung des Wesentlichen gelingt ihr im Verorten des ewig Gleichen an jene unnennbaren Dinge, die als aktuelle Erscheinung den Sinn ihrer Verklärung in den Zeitbezügen erhalten. Was suchen wir Strömende in den Eindrücken motivgesteuerter Zusammenhänge? Die Erzählung unseres Lebens, bei Michaela Kirchknopf ist es das Leben der Frauen. Wie weit sind wir bisher gekommen?
Virtuell anmutende aktuelle Frage wie Ausgleichsberechtigung als Genderbudgeting werden durch die katastrophale Vernichtung weiblicher Freiheit als Genitalverstümmelung und Zwangsehen konterkariert, das Motiv des weiblichen Sündenbocks, die Abwertung eines ganzen Geschlechts als Verführerinnen, Hexen, Hysterikerinnen durch repellierende Frauenbilder ist jene akute Bedrohung, die in den europäischen Alltag diffundiert, und gegen die die als indifferent missverstandene liberale Toleranz machtlos ist.
Kirchknopf arbeitet mit subtilen Nuancen, Schattierungen, an denen diese Spaltungen sichtbar werden. Feingliedrige Teilungen zeigen sanfte Wege auf, Perspektiven öffnen sich, etwas springt auf, schwingt mit. Sie arbeitet mit Mischtechnik auf Leinwand und Tusche auf Papier, verwendet Schablonen, collagiert Tapeten aus jener heilen Welt, der Nachkriegszeit, als das Gesellschaftsbild der Frauen noch in Ordnung war? Doch vergessene Trümmerfrauen liefen am idealisierten Kleinfamilienkonzept der 50er Jahre auf, es bleibt die Erinnerung der greifbar großmütterlichen Wärme und Geborgenheit, mit der Hand tastend entlang fahren am heimeligen Muster, eine idealisierte Blume, die Landschaft auf tönernen Füßen.
„Antigone oder Medea, das ist die Alternative. Wie sollen wir die Macht bekämpfen? Durch das Festhalten an der überlieferten Moral, oder indem man die Macht selbst an Gewaltsamkeit noch übertrifft?“ – Medea ist die Antwort, frei nach Slavoj Zizek
Dr. Leo Hemetsberger, Philosoph,
www.philprax.at
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serie gegendrehungen
text von dagmar aichholzer
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Objektivierung der eigenen Wirklichkeit
Für Michaela Kirchknopf sind sowohl die Malerei als auch die Zeichenkunst und Installation die Mittel, um die eigene Wirklichkeit entsprechend zu objektivieren. In ihrer Einzelausstellung in der white8-Galerie in Villach zeigt Kirchknopf Acrylbilder auf Leinwand, Arbeiten auf Bütte und eine Installation.
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Geschichtsbewusste Aufarbeitung
Am Anfang jeder schöpferischen Arbeit stehen für Kirchknopf intensive geistige Auseinandersetzungen mit der Historie des Themas. Märchen, antike und neue Mythen, als auch Alltagsgeschichten werden in ihren Werken stilistisch vereinfacht erzählt. Dabei arbeitet sie Inhalte aus der Kulturgeschichte des Menschen, im wesentlichen der Frau, mit starkem Geschichtsbewusstsein auf.
Zentral: problembeladene Existenz von Frauen
Kirchknopfs Bilder sind voller Symbolik, wofür die Künstlerin gerne als Beispiel auf die Lotosblüte zurückgreift. Die Künstlerin greift Andeutungen und Doppeldeutigkeiten auf, die mit sensiblem Strich die problembeladene Existenz von Frauen, ausgehend von den großen mythischen Frauengestalten wie der Medusa, Medea oder Pandora durch die Jahrhunderte hindurch bis hinein in die heutige Zeit, zeichnet.
Kirchknopf zeigt die Rolle der Frau als Sündenbock, behandelt das Thema der Genitalverstümmelung, die auch heute noch existiert und als rituelle Handlung durchgeführt wird - und zwar von Frauen gegen Bezahlung.
Dagmar Aichholzer, Galerie white8, 2007,
www.white8.at
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serie märchenreisen
text von adelheid anna könig
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In Bruno Bettelheims 1975 erschienenen Buch Kinder brauchen Maerchen steht ein Satz, der in ganz besonderer Weise diese Ausstellung von Michaela Kirchknopf und den Kindern der Volksschule Stiftgasse charakterisiert:
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Wenn nicht etwas in uns wäre, das den großen boesen Wolf mag, haette er keine Macht über uns.
Gut und Boese sind in beinahe allen Maerchen in bestimmten Figuren und deren Handlungen verkörpert. Anders als im alltaeglichen Leben sind die Trennlinien zwischen hellen und dunklen Gestalten hier sehr scharf gezeichnet; Ueberschneidungen oder gar Entwicklungen hin zur jeweils anderen Seite begegnen uns nur sehr selten. Der Wolf nun eine zentrale Figur in zahlreichen Volksmaerchen wie auch in den Arbeiten der Michaela Kirchknopf gehoert nun eindeutig der dunklen, bedrohlichen und boesen Seite an.
Und dennoch also, so Bettelheim, mag etwas in uns den großen boesen Wolf. Etwas in uns sucht nach ihm, und der Gang in den Wald, das Abkommen vom Weg und das sich Verlaufen und Verlieren im Dickicht des Unbekannten und Unentdeckten geschieht vielleicht nicht trotz des boesen Wolfes, sondern gerade um seinetwillen. Der Wald als die Heimat des Dunklen und des Unbekannten spielt ebenso wie der Wolf in vielen Maerchen eine Schluesselrolle. Mit dem Gang in den Wald beginnt der Entwicklungsweg, aus dem die Maerchenheldinnen und helden gestaerkt und fast immer siegreich hervorgehen: Das Abkommen vom Weg oder das Einschlagen eines neuen Weges ist somit die Voraussetzung für die Begegnung mit dem Mitspieler aus der anderen Welt, ohne den der thematisierte Konflikt nicht stattfinden koennte und ohne den die Geschichte somit wertlos waere. Ein Rotkaeppchen, das seinen Wolf nicht findet, waere keins, an das wir uns erinnern wuerden: Rotkaeppchen und der Wolf sitzen im selben Boot.
Liest man Rotkaeppchens Geschichte in der Version der Brueder Grimm, so zeigt sich ein weiterer interessanter Aspekt: Man stellt fest, dass die Pole des Guten und des Boesen, in deren Spannungsfeld sich die Geschichte entwickelt, im Bewusstsein der Heldin zunaechst noch nicht vorhanden sind: Als Rotkaeppchen dem Wolf begegnet, so wird erzaehlt, wusste sie nicht, was das für ein boeses Tier war, und fuerchtete sich nicht vor ihm. Sehr eintraechtig gehen die beiden ein Stueck Weges gemeinsam; der Wolf macht Rotkaeppchen aufmerksam auf die schoenen Blumen, die ringsumher stehen und wie die Voeglein so lieblich singen..... Und Rotkaeppchen, so erfahren wir, schlug die Augen auf......und lief vom Wege ab.
Erst der Wolf also oeffnet Rotkaeppchen die Augen für die Schoenheiten der Welt um sie herum. (dass er dabei auch etwas im Schilde fuehrt, ist fuer die Heldin zunaechst zweitrangig). Wenn Rotkaeppchen eine Blume gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus staenden schoenere, und lief darnach, und geriet immer tiefer in den Wald hinein. In dieser Szene spiegeln sich Erfahrungen wider, die der Welt der Kinder, aber keineswegs nur der Kinder angehoeren: die Erfahrung der eigenen Verfuehrbarkeit und deren zwiespaeltiger Folgen. Aber auch die Erfahrung, dass die wirklich neuen, die großen und reichen Entdeckungen des Lebens of nur jenseits ausgetretenen Wege zu finden sind: Ohne den Wolf haette Rotkaeppchen die Blumenwiese nie entdeckt.
Letztlich jedoch stehen die (aus Wolfssicht durchaus legitimen) Interessen des Wolfes das Verschlingen von Rotkaeppchen und Großmutter denen des Rotkaeppchens diametral entgegen, und notwendigerweise kommt es zu einem Interessenskonflikt, zu einem moralischen Problem, mit dem Rotkaeppchen sich aktiv auseinandersetzen muss und in dessen Loesung die Aufgabe der Geschichte besteht. Maerchen, so Bettelheim, sind als symbolische Wiedergabe kritischer Lebenssituationen zu verstehen. Die Sprache der Märchen ist eine der Bilder, eine, die auf Bewusstes wie Unbewusstes gleichermaßen wirkt und in der Widersprueche zwischen Gut und Boese, zwischen Opfer und Taeter nicht aufgeloest werden muessen, sondern nebeneinander bestehen koennen. Die entscheidenden Pole des Daseins Gesetz und Freiheit, Enge und Weite, Einheit und Vielfalt finden sich im Maerchen als Form vereinigt.
Michaela Kirchknopf bedient sich der Symbolsprache der Maerchen, um mit sehr viel Witz, Ironie und Sensibilitaet damit zu spielen, um Wertigkeiten zu hinterfragen und auf den Kopf zu stellen. Die Trennungslinien zwischen guten und boesen, hellen und dunklen Gestalten verschwimmen und loesen sich letztlich auf: Ins Bild gebracht und weitergesponnen, nehmen altbekannte Geschichten interessante und oft ueberraschende Wendungen. Nicht zuletzt begegnen uns in Kirchknopfs Arbeiten immer wieder auch Figuren, die den im Maerchen verkoerperten Entwicklungsweg bereits hinter sich gelassen und den damit verbundenen Konflikt geloest haben: Erwachsen geworden, raekelt sich Rotkapp auf der Couch vor dem Fernseher, im Hintergrund tummelt sich ein Wolf, der zum Haushund geworden ist und seinen einstigen schrecken laengst verloren hat.
Adelheid Anna König, Wissenschaftshistorikerin und Übersetzerin, 2005
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